Licht und Farbe
Licht und Farbe
2012
Kann ein Pathologe anhand der vielen Leichen, die er seziert hat, erklären, wie das Leben funktioniert? Bestimmt nicht. Er sagt im Krimi immer aus, wie einer zu Tode gekommen ist - umgekehrt geht es wohl nicht. (Für Freunde der korrekten Ausdruckweise: dieser Pathologe ist ein Forensiker)
In der Technik versucht es man doch. Man teilt etwas Ganzes in seine Bestandteile auf und behandelt jedes Element für sich. So kann der eine Ingenieur erklären, wie ein Kolben funktioniert, der andere wie eine Kurbelwelle. Kann man aus beiden lernen, wie ein Auto funktioniert? Nein. Man muss alle Teile gemeinsam betrachten können. Der Pathologe könnte seinen Beruf nie ausüben, ohne lebende Menschen studiert zu haben. Und der Kolbenbauer wird nie ein guter, wenn er sich nicht verinnerlicht hat, wie ein Motor funktioniert. Man wird zuerst Mediziner bzw. Konstrukteur, um später Pathologe oder Kolbenbauer zu werden.
So ähnlich geht es in der Beleuchtung zu. Ein Lichtplaner, der Architektur studiert hat, wird zum einen wissen, wie Farben entstehen. Und zum anderen, wie man Formen und Oberflächen beleuchtet, damit sie gefällig aussehen. Helligkeit, Form, Farbe und Glanz, sind für den Architekten wie für den Autodesigner eins, so sie den Umgang mit der visuellen Kommunikation gelernt haben. (Wenn nicht, gibt es andere Berufe, die man in Erwägung ziehen sollte.)
Was aber, wenn man die vier Aspekte (Form, Helligkeit, Farbe und Glanz) zerlegt und jeweils einer Gruppe von Menschen zuordnet, für die der Rest - sagen wir mal unfein - schnuppe ist? Das ist just der Zustand, den wir in der Beleuchtung tagtäglich erleben:
•Für die Normen für Beleuchtung ist Form wirklich schnuppe. Woher soll den einer wissen, was später in dem von ihm beleuchteten Raum steht? (Wie man es macht, wenn man es weiß, kann man z.B. an der Beschreibung der Planung des Neuen Museums in Berlin, Beleuchtung für Nofretete, lesen).
•Glanz ist zwar nicht völlig schnuppe, aber Teufelszeug. Dazu sagt man apodiktisch, nichts darf glänzen, alles muss matt sein. Wenn es doch nicht so sein sollte, bitte die Leuchten so aufstellen, dass nichts glänzen kann. Da man einmal verbaute Leuchten doch nicht verrücken kann, ordnet man an, dass Millionen von Leuchten immer in Bändern links und rechts über den Bürotischen hängen. (Dass es Leuchten gibt, die man verrücken kann, spricht sich langsam herum, aber sehr sehr langsam.) Ganz schlaue Experten wenden die Weisheit sogar auf Industriehallen. Wie man polierte Oberflächen, Wellen und Werkzeuge matt kriegen soll? Wenn nicht, dann die Maschinen zwischen den Leuchtenreihen aufstellen. Dann müsste man allerdings viele glänzende Maschinenteile platt kriegen.
•Farbe? Da man ihre Existenz nicht verleugnen kann, muss was dafür getan werden. Bei den Lampen gibt man die Farbtemperatur an, die unter brutaler Vergewaltigung des Planckschen Strahlungsgesetzes berechnet wird. Ob die stimmt, kann der Laie nicht berechnen. Der Fachmann übrigens auch nicht, fast immer nicht. Außerdem muss noch die Farbwiedergabe angegeben werden. Dummerweise sieht der dazu verwendete Index wie eine Prozentangabe aus, so dass auch Fachleute zuweilen glauben, dass z.B. ein Index von 90 irgendwie bedeuten müsste, dass 90% der Farben wiedergegeben werden. Oder alle Farben zu 90%? Oder ähnlich, aber nie richtig. Farben gibt es nämlich nicht physikalisch. Daher bezieht sich der Index auf eine Referenzquelle und Testobjekte, und von der Referenzquelle gibt es mindestens zwei. So können zwei total unterschiedliche Erscheinungsbilder vom gleichen Objekt von zwei Lichtquellen erzeugt werden, die beide stolz sind auf den höchsten Farbwiedergabeindex von 100. Geben sie wenigstens alle Farben wieder? Kann sein, muss aber nicht. Denn der Index wird mit den (Test)Farben berechnet, die ein US-Maler namens Munsell zu Beginn des letzten Jahrhunderts festgelegt hatte. Von diesen kann man manche nur noch theoretisch herstellen, ergo nur noch auf dem Rechner. Und alle Testfarben sind Pastellfarben. Frische, gesättigte Farben kann eine Lampe wiedergeben, muss aber nicht. Wie dem auch sei: Der Lichttechniker sieht es nicht als seine Aufgabe an, welche Farben in einer Umgebung benutzt werden. Das ist auch gut so. Die soll derjenige bestimmen, der den Raum gestaltet. Übrigens: Farbenerkennen gehört nicht zur Sehleistung. (Zum Thema Farben auf dem Rechner möge man sich nur die Klimmzüge ansehen, die Grafiker und Druckereien sich leisten müssen, um ein Werk auf dem Rechner und auf dem Papier gleich aussehen zu lassen. )
•Helligkeit: Der vierte im Bunde ist die Domäne der Lichttechnik. Die Effizienz ihrer Produkte (Lampen) wird an der Erzeugung von Helligkeit bestimmt. Alles, was zu Sehleistung gehören soll, wird an dieser Größe gemessen. Dumm nur, dass es auch die Helligkeit nicht gibt. Sie ist eine Empfindung, die schwer zu beschreiben ist. Daher behauptet man, dass die Leuchtdichte die beste Annäherung dazu sei. Kann sein. Eine gute ist sie aber nicht, wie weiter unten gezeigt wird.
Trotzdem: Würde man in den Normen nach dieser Größe verfahren, würde uns Vieles erspart bleiben. Man tut es nicht, obwohl man weiß, dass es besser wäre. Denn für die Außenbeleuchtung ist der Maßstab die Leuchtdichte. Für die Innenbeleuchtung aber nicht. Man unterteilt die Leuchtdichte noch einmal in Reflexionsgrad und Beleuchtungsstärke. Nicht weil dies viel Sinn macht, sondern weil die Lichtindustrie keine Farbeimer verkauft, sondern Lampen und Leuchten. Einst hat man die Vorgaben für Beleuchtungsstärke immer an den Reflexionsgrad gekoppelt. Seit langem nicht mehr, die Reflexionsgrade werden nur noch pauschal empfohlen. (Hier wäre noch einmal das Wort schnuppe angebracht. Ist aber nicht, denn für den Umsatz ist es nicht schnuppe, ob man die Leuchtdichte oder die Beleuchtungsstärke zum Maßstab macht.)
Was hat das ganze mit der Leiche zu tun? Viel. So wie man an der sezierten Leiche nicht verstehen kann, wie das Leben funktioniert, kann man auch aus Beleuchtungsstärke und Reflexionsgrad nicht auf Helligkeit schließen, schon gar nicht auf Farbe. Ob gar ein beleuchteter möblierter Raum die gewünschte Anmutungsqualität aufweisen wird, wird man nicht einmal näherungsweise anhand technischer Größen bestimmen können. Übrigens, einer sehr weit verbreiteten Mär zufolge kann man an der Beleuchtungsstärke ablesen, wie hell ein Raum erscheint. Sie bleibt eine Mär, auch wenn viele Leute daran glauben.
Wie die technische Zerlegung der für die Empfindung wichtigen Aspekte uns in die Irre führt, kann man an zwei Beispielen erkennen:
Zunächst das häufiger bekannte Beispiel: Ein Stück Kohle ist bei Tage (physikalisch) „heller“ als weißes Papier bei Nacht. Trotzdem wird Kohle immer als dunkler eingestuft als Papier. Eines der Konstanzphänomene. Auch optische Täuschung genannt. Und da täuscht man sich.
Jetzt das kaum bekannte: Welche Farbe haben Schäfchenwolken, das sind die hübschen kleinen Schönwetterwolken, und welche die schlimmen Gewitterwolken? Eigentlich eine ganz dumme Frage. Jeder weiß es doch!
Wenn man sich zur Beantwortung der Frage nicht die Wolken anschaut, sondern so vorgeht wie in der Beleuchtungstechnik - Beleuchtungsstärke und Reflexionsgrad getrennt beobachten -, wird man unweigerlich zu der echt überraschenden Feststellung kommen, dass die Schäfchenwolken und die Gewitterwolken gleich aussehen, nur die Beleuchtungsstärke ist unterschiedlich. Beide Wolken sind Wasserdampf plus kondensierte Wassertröpchen und würden, in Proben aufgeteilt, im Labor fast gleich aussehen. Die echte Schäfchenwolke ist aber dünn und lässt viel Licht durch, während die Gewitterwolke bis zu 10 km hoch sein kann. Das schluckt Licht. Ihre gruselige Erscheinung ist also überhaupt nicht wahr, erwiesenermaßen, lichttechnisch. Auch eine optische Täuschung?
Es ist an der Zeit, mit der Täuschung aufzuhören. Beleuchtungsnormen dienen nicht vornehmlich den Interessen der „Beleuchteten“, also der Menschen, die unter einer Beleuchtung leben und arbeiten müssen, sondern - jetzt fein gesagt - Partikularinteressen. Wer die „Partikuläre“ sind, kann man schnell anhand der Teilnehmerlisten von Sitzungen bestimmen, in denen die Normen gemacht werden. Ihr Pech ist, dass sie Dinge festlegen, die in der realen Welt jeder anders sieht, aber jeder gleich.
Dass Regeln meistens den Interessen derer dienen, die sie setzen, wird sich nicht vermeiden lassen. Man kann ihnen das nicht einmal verübeln. Wenn diese aber ihre Regeln so festlegen, dass anderen das Handwerk erschwert wird oder gar unmöglich gemacht, sollte man sich überlegen, ob die Interessen aller bei der gerade formal zuständigen Truppe noch hinreichend berücksichtigt sind. Wie das gehen kann, kann man am Schicksal des Normenausschusses Bürowesen studieren. War NBü einst auf seinem Gebiet mächtiger als der Staat - der hätte sich nie getraut, DIN A 4 als Maß für alle Lebensbereiche festzulegen oder die Länge der Tischbeine für die Hälfte der Arbeitsbevölkerung auf Millimeter genau vorzuschreiben oder gar der ganzen deutschen Bevölkerung vorzugeben, wie man in ein Diktiergerät spricht, so gibt es ihn seit 2007 nicht mehr. Bereits früher waren die Büromöbel Sache von einem Ausschuss, der vom Thema Holz dominiert wird. Na, bitte. Das sind doch gute Aussichten!
Leben an der Leiche erklären
28.05.12
Bedauernswert ist das Volk, dessen Staatsmann ein Fuchs ist, dessen Philosoph ein Schwindler und dessen Kunst aus Nachahmung besteht.
Khalil Gibran
Wo bleibt der Esel bei dieser Story?
d. Blogg.