Licht und Normen
Licht und Normen
2011
Als ich nach Berlin zog, verschlug mir der Blick über die Dächer von Wedding den Atem. Über jenen Dächern herrschte eine Ordnung wie auf Medusas Haupt. Zehntausend und eine Antenne, ausgerichtet wild nach allen Himmelsrichtungen. Gott sei dank, dachte ich in der Hauptstadt der DDR. Erstens gab es dort nur wenige Antennen, und zwotens nur nach einer Richtung aufgereiht. Die DDR duldete kein Westfernsehen. Dort herrschte Norm.
Viele Leute halten Normung für den Tod von Kreativität. Ich auch - allerdings die nach DDR-Art. Der Herr, der über uns wohnt, wohl auch. Denn wenn er von da oben seiner Wolke solche Bilder sieht, pustet er je nach Landschaft einen Tornado, einen Zyklon oder Hurricane zusammen, auf dass der Unsinn weggeblasen wird.
Was ist aber mit den „Normen“ für die Lichttechnik? Helfen sie „Kreativität“ vermeiden oder töten sie die? Die Meinung eines hohen Herrn aus gutem Hause, Beruf Facility Manager, wird denen, die solche Papiere schreiben, runter gehen wie Butter: „Wenn jeder sein Fenster öffnen darf, wann er will, und den Vorhang zur Seite ziehen, wie es ihm gefällt, kann man die ganzen Wirtschaftlichkeitsberechnungen vergessen.“ Aha! Ich wusste gar nicht, dass die Wirtschaftlichkeit deutscher Betriebe darauf beruht, dass Fenster und Vorhänge nur organisiert geöffnet und geschlossen werden dürfen.
Der gute Herr hatte aber auch an den Regelwerken auszusetzen gehabt, die wir für ihn zusammen gestellt hatten. Es wären zu viele, und sie würden sich widersprechen, meinte er. Außerdem hätte er das Meiste überhaupt nicht verstanden. Da habe ich meine Kutte angezogen und den Seelsorger gemimt. Aber ehrlich, ich verstehe sie auch nicht. Vor etwa 20 Jahren hatte ich den Auftrag, eine Beleuchtung nach dem Geschmack der Arbeitsschützer zu spezifizieren. Da las ich in dem Papier der einen BG, man bräuchte 800 lx im Büro. Außer dieser hatte niemand diese Idee gehabt. Die redeten von 500 lx, 750 lx, 1000 lx, aber nie von 800. Eine andere Institution, der Dachverband der BGn hatte ein Papier veröffentlicht, wo wieder andere Zahlen waren. Ich amüsierte mich am meisten über den Arbeitsplatz, für den die Beleuchtungsstärke angegeben worden war, eine Kreissäge im Freien. 500 lx soll da ganz toll sein. Die Bürohengste, die einst ihren Bleistift über den Ordnern balancierten, brauchten auch 500 lx dafür. Später hielt ein Kollege einen Vortrag zu Ehren unseres Chefs. Er hatte Küchenarbeit untersucht. Meinte, für Gurkenschälen wären 500 lx nötig. Und im jüngsten Werk, BGR 131 steht geschrieben, aus sehphysiologischen oder produktionsbezogenen Erfordernissen muss einem Büromenschen ewig 500 lx gesichert werden. Ergo: Wir brauchen nur eine Norm zur Beleuchtung, in der nur eine Zahl steht. Wozu denn so viele Regeln und Papiere?
Langsam zum Mitschreiben: Wer heute eine Beleuchtung nach dem Stand der Technik planen sollte, müsste eine ASR 7/3 aus anno Tobak berücksichtigen, um dem Arbeitsminister zu gefallen. Er hat die 1976 gemacht, konnte die aber nicht zurückziehen, weil es viele Querelen gab. Die neue heißt auch ASR, aber A.S.R. bedeuten was anderes. Erst einmal ist die alte gültig und möchte soundsoviel Lux sehen, im Büro auf dem Arbeitstisch. Da kommt wieder die magische Zahl 500. Klar doch! Denkste, die 500 lx waren Nennbeleuchtungsstärke, wenn in einem neueren Papier wieder 500 auftaucht, ist das zwar Lux, aber eine andere Größe. Denn gelten tut nunmal DIN EN 12464-1, und die kennt keine Nennbeleuchtungsstärke. Allerdings die Planer. Auch die cleversten von ihnen könnten die Sache missverstanden haben. Also Bauherr, gib acht!
Wieder so eine Zahl. Damals vor 20 Jahren hatte ich 8 Normen und Vorschriften zusammen gezählt, wonach man Beleuchtung machen sollte. Für heute habe ich aber bislang nur drei aufgezählt. Keine Sorge, der Rest folgt. Man muss, um sicher zu gehen, eine BGR 131, zweiteilig, berücksichtigen. Weil die Sache den Machern doch nicht so klar scheint, haben sie noch zwei BGI dazu geschrieben, damit es jeder versteht. Die größte Einzel-BG vertreibt auch eine eigene BGI. Doch nicht genug damit, wir leben in einem Rechtsstaat, Pardon, in 16 Rechtsstaaten, so musste auch der Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik LASI ein eigenes Papier machen. Wenn ein Unternehmen europäisch breit aufgestellt ist, z.B. die Bayerische Landesbank mit der profitablen Tochter in Österreich, kann sich anstelle von DIN EN 12464-1 die Version Österreich kaufen. Dort stehen zwar die gleichen Zahlen, aber gerechnet wird anders. Und wer sich von Weltformat wähnt, sei aufgerufen, nach dem Weltstandard zu handeln, CIE S 008/E:2001, die es auch für ISO-Fans gibt, ISO 8995-1:2002. In beiden sollte dasselbe stehen wie in EN 12464-1, hat aber nicht ganz geklappt. Wenn von der europäischen die neue kommt, wird der Unterschied noch größer sein. Und wenn diese dann in Deutschland in Deutsch erscheint, wird der Bauherr endlich Erleuchtung finden. Da wird nämlich folgende Aussage zu bestaunen sein: „Wird die Planung und/oder der Betrieb von Beleuchtungsanlagen ausschließlich nach dieser Norm vorgenommen, kann das dazu führen, dass die staatlichen Mindestanforderungen oder die Anforderungen der Unfallversicherungsträger an die Beleuchtung nicht eingehalten sind.“ Es gäbe konkretisierende, zusätzliche oder abweichende Anforderungen zu dieser Norm … wird der glückliche Käufer von DIN EN 12464-1:2011 lesen, wenn sie denn erscheint. Ach ja, kurz danach wird der Arbeitsminister seine runderneuerte ASR zur Beleuchtung präsentieren. Und seit 1998 gibt es eine DIN EN ISO 9241-6, die nicht nur Beleuchtung regelt, aber auch.
Wer behauptet, Normung töte Kreativität, sollte etwas Auszeit nehmen, um sich gründlich zu schämen. So viel Papier wurde noch nie gewendet, um die Zahl 500 unter die Leute zu bringen. (Wer bis hierher gelesen hat, möge bitte hoch scrollen und sich das Bild oben noch einmal ansehen.)
Wer will das alles wissen!
30.03.11
Genug zu haben ist Glück.
Mehr als genug zu haben
ist Unglück.
Laotse